25 Jahre Gartenstadt Johanneskirchen

Fünfundzwanzig ist doch kein Alter für Jubiläumsfeiern. Trotzdem soll an den des 25. Geburtstag der Gartenstadt gedacht werden. In den Jahren 1983–1986 entstanden in drei Bauabschnitten Wohneinheiten mit Obstbäumen in den Gärten, Alleen an den Erschließungsstraßen sowie Fuß- und Radwegen an zwei breiten Angern, die sich durch die Siedlung ziehen. Im Herbst 1984 zogen die ersten Bewohner ein. Im Ladenzentrum gibt es einen Schreibwarenladen, das Schreibix, das in der folgenden Geschichte eine Rolle spielt.

 

Der nachfolgende Text stammt von Axel Hacke, der damals mit seiner Frau Antje und seinen Kindern Marie (2), Max (5) und Anne (6) in einem Reihenhaus in der Gartenstadt wohnte. Hacke, geboren 1956 in Braunschweig, Studium in Göttingen und München. Von 1981 bis 2000 war er Redaktionsmitglied der Süddeutschen Zeitung, zunächst als Sportredakteur, dann als politischer Reporter und Streiflicht-Autor. Er lebt seit 2000 als Schriftsteller und Kolumnist in München und dem Chiemgau. Er erhielt den Joseph-Roth-Preis, den Theodor-Wolff-Preis und zwei Egon-Erwin-Kisch-Preise. (siehe auch www.axel-hacke.de) Dem Buch „Der kleine Erziehungsberater“ (1992), dem die Erzählung „Ekelschleim“ entnommen ist, gibt es auch als Hörbuch. Wir bedanken uns bei Axel Hacke und dem Kunstmann Verlag München für die freundliche Unterstützung.

 

„Ich weiß jetzt, was Kinder brauchen, um glücklich zu sein. Sie brauchen einen widerlich roten geleeartigen Schleimball. Und das kam so: Bei uns gibt es einen Schreibwarenladen, das ist der Schreibix, und beim Schreibix gibt es Cola-Schlangen und eßbare weiße Wabbelmäuse und Gummibärchen. Und eines Tages gab es auch Schleimbälle. Für zwei Mark. Das Stück. Sie heißen nicht Schleimbälle, die Kinder nennen sie 'Klebebälle', weil sie an der Wand kleben bleiben, wenn man sie dagegen wirft. Aber sie sind aus Schleim, einem zähen, roten, schwabbeligen Ekelschleim, einer grauenhaften gallertartigen Masse, die ballrund ist, an der Wand haftend aber Kuhfladenform annimmt. Irgend jemand hat Anne so einen Ball gekauft. Für zwei Mark. Das Stück. (Oh, hätte ich einmal eine solche Idee und würde sie vermarkten und wäre reich! Außerdem möchte ich einmal Menschen kennenlernen, die sich so etwas ausdenken. Ob sie selber Kinder haben? Oder Menschen mit Kindern hassen und sie deshalb ärgern wollen?) Als ich abends nach Hause gekommen bin, hat Anne geschrieen: 'Achtung, Papa!' Und flatsch! haftete an meiner Jacke roter Glibber. War das ein Jubel! War das eine Freude!

 

Am nächsten Morgen war der Schleimball weg. Verschollen! Unauffindbar! Antje und ich, die Eltern, krochen unter Betten, lüpften Teppiche, durchwühlten Schubladen, glotzten ins Klo – weg. Anne stand heulend zwischen uns, aufgelöst, am Ende. Schluchzend: Sie könne heute nicht in den Kindergarten gehen. Sie könne überhaupt gar nichts tun. Gibt es ein Leben ohne Schleimball? Kann man glücklich sein ohne roten Klebedreck? Kann man nicht. 'Okay, Anne, hier hast du zwei Mark. Lauf zum Schreibix und kauf dir einen neuen.' Normalerweise würde ich ihr nie zwei Mark für solchen Quatsch geben. Normalerweise würde Anne, die die Schüchternheit ihres Vaters geerbt hat, auch nie alleine zum Schreibix gehen, um sich was zu kaufen. Das hier war eine Ausnahme. Ein Notfall. Eine existentielle Grenzsituation. Die zwei Mark in der Hand eilte sie glückstrahlend sofort los.

 

Nach fünf Minuten kam sie heulend wieder, Rotz und Wasser. Die Schleimbälle waren ausverkauft. Erst nachmittags würde es sie wieder geben. Unmöglich, in den Kindergarten zu gehen! Was soll man im Kindergarten ohne Schleimball? Lächerlich! Absurde Vorstellung! Alle haben Schleimbälle, nur Anne nicht.

 

Ich musste dann ins Büro. Ich weiß nicht, wie Antje und Anne und die anderen den Vormittag überlebt haben. Ich weiß auch nicht, wo sie dieses Ding dann gefunden haben. Sie haben es jedenfalls gefunden. Das Glück ist eine rote Gallertkugel. Als ich abends zur Tür hereinkam, schwupp!, kam sie mir wieder entgegen geflogen, und ich konnte sie gerade noch auffangen. Ist doch eigentlich ein schönes Gefühl – wenn einem das Glück an den Fingern klebt.“

 

NordOstMagazin, 2010

 

 

Das Einkaufszentrum Gartenstadt mit dem "Schreibix"

 

 

 

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