Ismaninger Straße 152/154/156/158

 

Die 1927 nach Plänen der Baufirma Heilmann & Littmann für die Gemeinnützige Wohnbaugesellschaft München-Ost errichtete stattliche Wohnhausgruppe mit barockisierendem Eingangsportal wurde zu einer städtebaulich wirkungsvollen Einheit zusammengefasste und um die Ecke zur Pixisstraße (Hausnummern 1 und 3) geführt.

 

Im Haus Nr. 152/I r musste die Familie Wilmersdörfer unter den Nationalsozialisten Ausgrenzungen und Qualen erleiden, die allen jüdischen Mitbürgern während des »Dritten Reichs«  angetan wurden und die mit ihrer grausamen Ermordung endete. Siegbert Wilmersdörfer wurde am 26. Dezember 1885 in Hof als Sohn des Nürnberger Kaufmanns Samson Wilmersdörfer und seiner Frau Helene, geb. Kaufmann, geboren. Er besuchte das Gymnasium bis zur 7. Klasse und diente im Ersten Weltkrieg als Gefreiter in der Starkstromabteilung. 1920 zog er nach München und heiratete dort am 16. Mai 1923 die 17-jährige Münchnerin Frieda Lucie Berliner, genannt Fritzi. Am 4. Juni 1924 wurde die Tochter Ruth Selma geboren. Ruth besuchte später 3 ½ Jahre das Mädchenlyzeum. Spätestens seit 1933 ist die Familie in der Ismaninger Straße 152/I r. gemeldet.

 

 

     

Siegbert, Frieda und Ruth Wilmersdörfer

 

 

Siegbert Wilmersdörfer betrieb ein kleines Handelsgeschäft für Berufskleidung in der Senefelderstraße 11 ½. Im Rahmen dieser Tätigkeit war er auch als Handelsreisender unterwegs. 1936 wurde der Geltungsbereich der Pässe von Juden auf das Inland beschränkt, sodass Siegbert Wilmersdörfer im Mai 1938 in einem Brief an das Passamt bei der Polizeidirektion München um die »Ausstellung eines Auslandsreisevermerks zur Durchführung einer Informationsreise nach Italien« nachsuchen musste. Diesem Antrag wurde stattgegeben und die Gültigkeit des Passes wurde für eine kurze Zeit (16. Juli bis 17. August 1938) auf das Ausland ausgedehnt. Siegbert Wilmersdörfer begründete diese Reise in seinem Brief an die Polizeidirektion damit, dass er sein »Erwerb-Versandgeschäft von Berufskleidung« nicht mehr aufrechterhalten könne und mit der Ausnahme  eines Anteils von 1/9 eines hoch belasteten Hauses auch kein Vermögen besitze. Deshalb müsse er in das Ausland übersiedeln und dort einen anderen Erwerb suchen, um seine Familie zu ernähren. In diesem Brief begründet Siegbert Wilmersdörfer auch, warum er sein Geschäft nicht weiterführen kann und macht deutlich, wie schon im Vorfeld der »Kristallnacht« vom 9./10. November 1938 der Spielraum von jüdischen Gewerbetreibenden immer wieder eingeengt wurde und sie schließlich ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden.

 

 

 

 

Seit Anfang 1938 verweigerte ihm sein einziger Lieferant für Berufskleidung für Männer, die Firma Bierbaum-Prönen in Köln, die Annahme seiner Aufträge - vermutlich wegen der regimenahen Ausrichtung der Firma, die Mitglied in der »Arbeitsgemeinschaft Deutsch-Arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie« war. Zwar versuchte Siegbert Wilmersdörfer Ersatz für diesen Lieferanten zu finden, seine Bemühungen blieben aber erfolglos, obwohl er mit 70 deutschen und österreichischen Herstellern diesbezüglich Kontakt aufgenommen hatte. [...] Ab September 1938 war es Juden dann per Gesetz verboten, eine Tätigkeit als Handelsvertreter auszuüben, womit die Geschäftsgrundlage von Siegbert Wilmersdörfer endgültig zerstört und sein Geschäft von Amts wegen in den Ruin getrieben wurde. Er war kurz darauf gezwungen, sein Gewerbe abzumelden. [...] Im April  1939 stellte die Familie Wilmersdörfer einen erneuten Antrag auf die Ausstellung eines Reisepasses »zum Zweck der Auswanderung in die USA mit Zwischenaufenthalt in England, der Schweiz oder Belgien«. [...] Sie Situation der Familie war zu diesem Zeitpunkt immer bedrohlicher geworden, denn Siegbert Wilmersdörfer war nach der »Kristallnacht«, wie an die 1000 andere Münchner Juden auch, in das Konzentrationslager Dachau verschleppt worden. Ruth wurde wahrscheinlich gezwungen, das Lyzeum zu verlassen und eine auf Juden beschränkte Berufsschule zu besuchen. Auch die finanzielle Lage der Familie wurde immer angespannter. Siegbert Wilmersdörfer verfügte zu diesem Zeitpunkt nur noch über sehr geringe Geldmittel. Die Pässe wurden zwar ausgestellt, aber auch dieser Auswanderungsversuch misslang.

 

Kurz darauf erreichte der Verfolgungsdruck mit der Vertreibung der Münchner Juden aus ihren angestammten Wohnungen eine neue Stufe. Zahllose jüdische Familien mussten Mitte 1939 ihre Wohnungen verlassen und wurden zwangsweise in »Judenhäusern« beziehungsweise »Judenwohnjungen« zusammengelegt. Die Wilmersdörfers mussten im Mai 1939 in die Hermann-Lingg-Straße 16 umziehen. Im April 1940 musste die Familie erneut umziehen und wechselte innerhalb von zwei Monaten zweimal die Adresse. Zunächst waren sie in der Herzog-Heinrich-Straße 15/2 bei Gold gemeldet, danach zogen sie in eine Wohnung oder Pension am Sendlinger-Tor-Platz 10/4, um dann im Juli 1940 ihre letzte Unterkunft in der Kaiserstraße 7/0 zu finden. In der Folge unternahm die Familie eine ganze Reihe weiterer vergeblicher Versuche, aus Deutschland auszuwandern, die alle scheiterten. [...]

 

Ab Oktober 1941 war eine Auswanderung nicht mehr möglich und die Familie Wilmersdörfer gehörte zu den ersten 1000 Münchnern, die am 20. November 1941 deportiert und fünf Tage später in Kaunas/Litauen von SS-Einsatzkommandos erschossen wurden. Ruth wohnte zum Zeitpunkt der Deportation schon nicht mehr bei den Eltern in der Kaiserstraße 7, sondern war schon vorher in das Arbeitslager Lohhof verschleppt worden, wo sie zusammen mit ca. 100 anderen jungen Jüdinnen Zwangsarbeit an der angeschlossenen Flachsröste leisten musste.

 

 

 

 

<< zurück zur Ismaninger Straße

 

 

 

Textquelle:

Wolfram P. Kastner: »Auf einmal da waren sie weg ...« Stamsried 2004, S. S. S. 130-134.

 

Abbildungen:

oben: Haus Nr. 152, 2007 © dietlind pedarnig

Familienporträts aus: s.o., S. 130-134