Wilhelm Hausenstein Wege eines Europäers*

 

Wenn ich im alten Bogenhausener Friedhof am Georgskirchlein das Grab von Wilhelm Hausenstein bepflanze, spreche ich manchmal Besucher an, die vor dem schmiedeeisernen Kreuz mit dem roten Herzen an der rechten Friedhofsmauer stehen bleiben: „Wissen Sie, wer Wilhelm Hausenstein war?“ „Ein Schriftsteller?“ „Ein Kunsthistoriker?“ Stimmt, aber eine wichtige Mission in seinem Leben bleibt fast immer ungenannt: Er war der erste deutsche Botschafter in Paris von 1950 bis 1955, seine Berufung ein Geniestreich von Kanzler Adenauer, der sich in der heiklen Nachkriegszeit etwas davon versprach, statt einem Diplomaten einem „homme des lettres“ diesen Posten anzuvertrauen.

 

Ich bin seit Anfang der 1970er Jahre mit der Familie Hausenstein befreundet. Ihn habe ich leider nicht mehr persönlich kennen gelernt, aber seine Witwe, die unvergessene Madame Margot, geborene Belgierin mit jüdischen Wurzeln, eine große Dame mit scharfem Verstand und klarer Urteilskraft, unermüdliche und fürsorgliche Gefährtin im Schaffen von Wilhelm Hausenstein – „la bonne conscience meiner ganzen geistigen Existenz“ (S. 56*). Und die Tochter Renée-Marie, deren Name an Rainer Maria Rilke erinnert, Trauzeuge von Margot und Wilhelm Hausenstein bei ihrer Hochzeit 1919 in München. Madame Hausenstein hat nach 106 Lebensjahren 1997 an der Seite ihres Mannes in der geliebten bayerischen Erde ihre letzte Ruhe gefunden. Renée-Marie Croose Parry suchte sich mit ihrem Mann Kenneth nach einem Leben in England und den USA als Alterssitz die Stadt Hornberg im Schwarzwald aus, wo Wilhelm Hausenstein am 17. Juni 1882 geboren worden war. Dort gibt es jetzt ein kleines Wilhelm Hausenstein-Museum mit seinen Büchern und persönlichen Gegenständen.

 

Meine erste Begegnung mit Wilhelm Hausenstein war sein Buch Liebe zu München, das mir als „Zuagroaste“ die Augen öffnete für die „Tellus Bavaria“ auf dem Scheitel des Hofgartentempels oder die im Hofgarten bei den Arkaden sitzende „Brunnenfrau“. Leider werden seine Bücher nicht mehr aufgelegt, nicht einmal mehr die reich bebilderte Neuauflage der Masken des Komikers Karl Valentin. Mit ihm verband Wilhelm Hausenstein eine einzigartige Freundschaft. Als Valentin starb, traf es Wilhelm Hausenstein schwer und nicht anders, als habe er „einen Bruder“ verloren (brieflich an die Tochter). Wilhelm Hausenstein war, „was seine äußere Erscheinung angeht, ein wahrer Ausbund von Wohlgeratenheit, höchst anziehend proportioniert, urban und liebenswürdig, ein Mann von Welt mit der Aura eines musischen Menschen … Faßt man also diesen Glücksfall von einem Mannsbild, in dem Charme und Geist, politische Entschiedenheit und innerste Frömmigkeit zusammen kamen, ins Auge und denkt sich den anderen, seinen spindeldürren, pappnasen-bewehrten Jahrgangsgenossen dazu, so hat man das mit Abstand unwahrscheinlichste Brüderpaar unter Gottes Sonne im Blick.“ (Hans Egon Holthusen im Vorwort der Masken)

 

In meinem Bücherschrank stehen viele Bände von Wilhelm Hausenstein, ich sammle sie: Rembrandt, Giotto, Vom Genie des Barock, Hauptstädte Europas, Pariser Erinnerungen, das Lebensbuch Lux Perpetua und vieles mehr. Das Reich der Interessen Wilhelm Hausensteins war weiträumig und vielseitig, die Liste seiner Buchveröffentlichungen verzeichnet mehr als 80 Titel, Publikationen über Grünewald, Klee, Beckmann, die berühmten Baudelaire-Übertragungen usw.

 

Nach seinem Studium in Heidelberg und Tübingen ging Wilhelm Hausenstein 1903 nach München, um seine Studien fortzusetzen und mit einer Promotion abzuschließen. In dieser Stadt wird er, von gelegentlichen Reisen unterbrochen, ein halbes Jahrhundert leben, denn auch die Tutzinger Jahre bleiben eng an ihrer Peripherie. München wird ihm zur zweiten Heimat.

 

Hier fängt er zusammen mit Theodor Heuss Feuer für den Sozialismus, nicht nur als „proletarischer Protest“, sondern als „erlebte Wissenschaft“, für ihn mit ein Grund, auf eine akademische Laufbahn zu verzichten. Nach einem Aufenthalt in Paris und einem Studium der Kunstgeschichte kommt Wilhelm Hausenstein zu der Erkenntnis, „was in mir ist und heraus will: und ich sehe keine andere Daseinsmöglichkeit als bei den Literaten und Journalisten“ (S. 41 *). „Er war ein „Ritter der Verantwortlichkeit“ … Welche Phase seiner Entwicklung er auch durchlief, immer spielte er mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit, um dem Menschen helfend zur Seite zu stehen, der ihm das Maß aller Dinge war … Als Interpret europäischer Kunst, sozialer Christ, als Publizist, im Erleiden des 3. Reiches und als Diplomat wirkte er auf seine Umwelt, weil er das lebte und verkörperte, was er ihr vermitteln wollte.“ (Walter Migge in der Einleitung zum Katalog*) )

 

Nach fristloser Entlassung aus der Redaktion der „Münchner Neuesten Nachrichten“ (1933) und dem Verbot, Bücher zu veröffentlichen – weil er sich weigerte, jüdische Meister aus seiner Kunstgeschichte zu streichen und die moderne Kunst im Sinn der Ausstellung „Entartete Kunst“ zu verwerfen - , wird er selbst als „entarteter Kritiker“ angeprangert. Mit der Entlassung aus der FAZ wegen seiner jüdischen Ehe fiel ein Rest von persönlichem Schutz fort. Im Endstadium des NS-Regimes mit dem gesteigerten Terror der Judenverfolgung forderte jeder Tag von WH, die Angst abzuwehren, von seiner Frau getrennt zu werden – eine ungeheuere Anspannung aller menschlichen und geistigen Kräfte, ein unablässiger Angriff auf eine mit den Jahren anfälliger gewordene Gesundheit. Im Januar 1945 stand die Deportation unmittelbar bevor. Dass sie unterblieb, lag – wie Wilhelm Hausenstein vermutete – an dem beginnenden Zusammenbruch.

 

Wilhelm Hausensteins Tagebücher über die Jahre von 1942 bis 1946 Licht unter dem Horizont sind ein Quellenwerk zur deutschen Geschichte des 3. Reiches, das uns die Seelenlage eines in der inneren Emigration lebenden Bildungsbürgers vorstellt. Die Eintragungen geben in Szenen aus dem vom Bombenkrieg verwüsteten München, den Plagen der Lebensmittelkarten bis zur Lektüre der Weltliteratur die beklemmende Spannung des Gefühls ständiger Existenzbedrohung, später auch Lebensbedrohung wieder. Daneben tausend Anmerkungen zur klassischen wie zur zeitgenössischen Kunst und Literatur, Schilderungen der oberbayerischen Landschaft und liebevoll, prägnante, mit Anekdoten gewürzte Porträts von Menschen, denen er begegnete.

 

Es wundert nicht, dass Wilhelm Hausenstein inmitten der inneren und äußeren Verwüstungen, die der Krieg hinterlassen hatte, eine Aufgabe darin sah, zu retten, zu bewahren und wieder zu beleben, was der Begriff „München“ in seiner kulturellen und künstlerischen Tradition seit Jahrhunderten umfasst hatte. Er wird Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und 1950 deren Präsident.

 

Mit der Berufung zum ersten Vertreter Deutschlands in Frankreich seit 1939 hatte das Schicksal für Wilhelm Hausenstein eine überraschende Fügung bereit. In seinen Pariser Erinnerungen schildert Wilhelm Hausenstein, wie groß die Schwierigkeiten der ersten Monate waren. 

 

„Niemals wird Deutschland voll ermessen, was es diesem Mann schuldet; denn niemals wird man sich in Deutschland ganz vorstellen können, wieviel Ablehnung und Feindschaft die Leiden der Besatzungszeit in Frankreich hinterlassen hatten …sein Erfolg war das Werk seiner Diskretion … Aber es war auch die Strahlungskraft seiner Person, seine Ansprechbarkeit, seine Würde, sein Humanismus, vor dem sich alle, die ihn kennenlernten, nicht nur bezwungen, sondern auch gewonnen fühlten.“ (S. 148 *) 

 

Für den 1955 scheidenden Botschafter hatte Frankreich eine außerordentliche Ehrung bereit: es ernannte ihn zum „Grand officier de la Légion d’Honneur“.

 

Nach Deutschland zurückgekehrt, nahmen Herr und Frau Hausenstein Wohnung in der Lamontstraße in Bogenhausen. Dort starb Wilhelm Hausenstein am 3. Juni 1957 an einem Herzinfarkt, mitten aus der Arbeit heraus, wie er es sich gewünscht hatte.

 

Barbara Flach, Oberföhring, NordOstMagazin 2010

 

 

*) Titel einer Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. im Münchner Stadtmuseum vom 23.09.29.–10.1967. Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf den Katalog (Stuttgart 1967).

 

 

Das Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium in Bogenhausen

 

 

 

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